Ukrainische Flüchtlinge in der Türkei – sicher, aber auf Rückkehr hoffend
Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges entflammt europaweit ein Feuer der Solidarität gegenüber Betroffenen. Doch wieso erst jetzt? Wieso nicht schon vorher gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus muslimischen Ländern?

Als Julia, eine junge Mutter und Englischlehrerin aus einem Vorort von Kiew, mir in Kuşadası über ihre Rettungsaktion erzählt, kommt man als Journalist schnell an seine beruflichen, ethischen Grenzen – darf man, soll man überhaupt ein Interview unter diesen Umständen führen? Hat ein Mensch, der gerade aus einem Kriegsgebiet in die Sicherheit und Geborgenheit Türkiye’s (Türkei) ausgeflogen wurde, nicht weitaus schwerwiegendere Sorgen? Aber nicht nur Julia, sondern generell gesprochen sehen Flüchtlinge aus der Ukraine dieses Thema weitaus proaktiver; ihre Sorge ist, dass auch in Europa letztendlich die Ukraine als Bösewicht dasteht, sobald das Interesse am Thema abflaut.
Diese traumatisierten, unschuldigen Frauen, Kinder und Männer wollen deshalb die Welt auf ihr Leid aufmerksam machen und eines klarstellen – großes Unrecht geschieht in der Ukraine; Menschen werden kaltblütig ermordet, Städte werden zerbombt.
Türkiye agiert, Europa lamentiert
Innenminister Süleyman Soylu nannte kürzlich die Zahl 58.000 betreffs angekommener Flüchtlinge aus der Ukraine (TVNET, 21. März 2022). Wenn man dies mit der Gesamtzahl von rund 3,5 Millionen Menschen vergleicht, die ihr Land verlassen mussten, könnte man leichtfertig sagen: 58.000 ist ein geringer Beitrag, aber man darf weder die geographische Situation außer Betracht lassen – rund zwei Millionen gingen nach Polen – noch die familiären Verhältnisse da es hilfesuchende Menschen natürlich in solche Länder zieht, wo Angehörige oder Bekannte leben.
Aber Türkiye ist ein humanitäres Vorbild, denn über die Jahre hinweg sind hier nunmehr vier Millionen Menschen aus dem benachbarten Syrien eingetroffen; hinzu kommen der Irak und in jüngster Zeit auch Afghanistan und weitere Länder.
Selbstredend stellt diesen Menschen niemand ein Ultimatum zur Rückkehr; im Gegenteil, unablässig werden Integrationsbemühungen in die Wege geleitet wie zum Beispiel Bildung und Ausbildung, Eingliederung in den regulären Wohnungsmarkt, finanzielle Unterstützung beim Kauf von Lebensmitteln und anderen alltäglichen Bedürfnissen.
Bezüglich der Situation in der Ukraine ist davon auszugehen, dass im mittelfristigen Zeitfenster die Flüchtlinge wieder nach Hause zurückkehren, wahrscheinlich sogar noch diesen Sommer, spätestens im Herbst.
Es ist somit endlich an der Zeit, dass die Staaten Europas nicht nur finanzielle Mittel bereitstellen, um anderen Ländern so wie Türkiye Unterstützung zur Eingliederung von Flüchtlingen zu erleichtern, sondern ihre eigenen Aufnahmekapazitäten drastisch erhöhen und nicht um 1000 Personen hier, 1000 Menschen dort: Auch Europa muss endlich über realistische Zahlen reden!
Es ist richtig zu sagen, dass während der Ukrainekrise genau jene oftmals vermisste spontane Solidarität in vielen Ländern Europas spürbar ist, aber warum erst jetzt, warum nicht bezüglich jedes Terror- und Gewaltopfers, unabhängig davon, aus welchem Land sie kommen?
Mann, Frau auf der türkischen Straße
In diesem Zusammenhang spielt auch die öffentliche Meinung eine große Rolle. Und das Bemerkenswerte ist: Unabhängig von globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Fluktuationen am Finanzmarkt – und wir sollten nicht vergessen, dass die Welt gerade eine Pandemie unvorhersehbarer Ausmaße bewältigte – hat sich die Einstellung zu internationaler Solidarität und humanitärer Hilfe in Türkiye nicht spürbar verändert.
Ein mitentscheidender Faktor ist hierbei, dass es nicht einer Weisung von oben bedarf, wie in manch anderen Ländern dieser Erde, sondern dass die türkische Bevölkerung grundsätzlich an Nächstenliebe denkt; Bedürftigen die Hand zu reichen, ist ein Selbstreflex.
Hinzu kommt ein sehr stark ausgeprägtes Familiensystem, wo jeder jeden nach besten Kräften unterstützt. Wenn dann in einem benachbarten oder sogar weiter entfernt liegenden Land Krieg oder Gewalt ausbrechen, wird diese familiäre Solidarität schnell auf „Nichtfamilienangehörige“ ausgeweitet; man könnte auch sagen, die eigene Familie wird zum Spiegelbild des ganzen Landes.
Es ist der Unterschied zwischen einem hoch individualisierten, fast schon egoistischen Alltag in Europa und einem höchst mitfühlenden, unterstützenden Alltag hier in Türkiye. Und die letzten Punkte beziehen sich nicht auf ein oder zwei feierliche Anlässe pro Kalenderjahr, sondern auf die gesamten 365 Tage.
„Wir wollen die Ukraine wiederaufbauen.“
Das Gespräch mit Julia, einer jungen Mutter mit fünfjähriger Tochter, die die Ukraine in Eile verlassen musste, wurde von Olena Burgaç arrangiert. Olena ist Mitglied im Exekutivausschuss des Stadtrats (Kent Konseyi) sowie stellvertretende Vorsitzende der Ukrainischen Kulturunion der Stadt Kuşadası und seit 16 Jahren hier beheimatet, selbst mit türkisch-ukrainischen Wurzeln. Olena ist sozusagen die Cheforganisatorin der lokalen Solidaritätsbewegung.
Zuerst 97, mittlerweile über 500 Flüchtlinge haben hier ein neues (temporäres) Zuhause gefunden; eine erste Hilfsaktion beinhaltete die Bereitstellung eines Charterflugzeugs, das 120 Menschen in Not aus Moldau über Izmir hierher brachte, eine Aktion dreier Reisebüros in der Ukraine und Türkiye. Die Stadtverwaltung kümmert sich um warme Mahlzeiten, zwei Hotels stellen Übernachtung und Frühstück entgeltlos bereit. Die gesamte Bevölkerung spendet Lebensmittel, Kleidung, Babynahrung, Decken, Medizin u.v.a.m., die dann per LKW und über die Botschaft in Ankara in die Ukraine gebracht werden.
Julia ist Englischlehrerin in Kiew und musste bis auf ihre kleine Tochter ihre gesamte Familie zurücklassen. Hier eine Zusammenfassung von dem, was Julia mir sagte:
„Wir in der Ukraine hatten nichts gegen die Menschen in Russland, aber wir wurden angegriffen, mussten also uns, unser Land verteidigen. Ich wurde in einer Rettungsaktion ausgeflogen und konnte nach Türkiye kommen. Warum? Um meine fünfjährige Tochter am Leben zu halten. Russland hat uns angegriffen, nicht die Ukraine Russland. Ich bin sehr dankbar, dass wir hier sind, aber ich hoffe, so schnell als möglich wieder nach Hause zurückkehren zu können, um mein Land wieder aufzubauen. Es gibt zu viele Fake News aus Russland, und die Bevölkerung hier in Türkiye und Europa sollte die Wahrheit erfahren.“
Das unendliche Leid und der Schmerz sind erkennbar, aber nur schwer in eine Post-Interview passende Kommentierung zu formen. Also belassen wir es beim Originalwortlaut:
„Immer wenn ich eine Polizeisirene oder einen Krankenwagen höre, erschrecke ich, ich denke, es ist der nächste Bombenalarm. Wir haben über 30 Kinder und Jugendliche in unserer Flüchtlingsgruppe, und da wir Erwachsenen Nachrichten aus der Ukraine im Fernsehen anschauen, hören unsere Kinder natürlich mit, wir leben ja im selben Zimmer. Jetzt spielen sie Kriegsspiele Ukraine gegen Russland. Wir sind alle traumatisiert, aber unsere Kinder, selbst als so willkommene Menschen hier in Türkiye, sind diejenigen, die am meisten leiden.“
Die Ukraine wird wiederauferstehen, und die Menschen, die derzeit in Türkiye und anderen Ländern dieser freien Welt in Sicherheit leben, werden alles daran setzen, sie wiederaufzubauen. Sie werden aber auch die Demokratie vorleben, denn wie Julia eingangs sagte: „Wir haben nichts gegen die russischen Menschen. Vladimir Putin trägt dafür allein die Verantwortung, niemand sonst.“